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Milch: meiden oder genießen?

Was Sie über Milch wissen sollten

 

Die einen preisen die Milch in den höchsten Tönen, die anderen verdammen die Milch als krank machendes Nahrungsmittel: Kaum ein Lebensmittel polarisiert die Meinungen so stark wie Kuhmilch. Fernab von Lobgesang oder Kritik lohnt es sich, darüber nachzudenken, was Kuhmilch tatsächlich bringt.

Drei Portionen Milch oder Milchprodukte pro Tag – das empfehlen die Schweizer Gesundheitsbehörden. Geht es nach dem Willen der amtlichen Gesundheitshüter, müssten die Schweizerinnen und Schweizer also noch mehr Milch(-produkte) verzehren als sie es jetzt schon tun. Genauer gesagt: jeden Tag zwei Deziliter Milch, einen Becher Jogurt à 180 Gramm und 40 Gramm Hart- bzw. 60 Gramm Weichkäse. Die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung DGE lautet: 200 bis 250 Gramm Milch oder Jogurt plus 50 bis 60 Gramm Käse täglich.

Was steckt in der Milch?

Woher kommt der hohe Stellenwert der Kuhmilch? «Kuhmilch ist ein gesundes Nahrungsmittel», sagt Nathalie Metzger vom Schweizerischen Verband diplomierter Ernährungsberaterinnen. «Sie enthält viel Kalzium und essenzielle Aminosäuren. Hinzu kommen wichtige Mineralstoffe und Vitamine.»

In der Tat enthalten 100 Milliliter Kuhmilch rund

  • 3,3 Gramm Eiweiß
  • 3,6 Gramm Fett
  • 4,7 Gramm Kohlenhydrate
  • 120 Milligramm Kalzium
  • außerdem Kalium, Phosphor, Magnesium und Natrium, die Vitamine A und E sowie Spuren der Vitamine B1, B2, B6, B12, Folsäure, Niacin und Betacarotin. 
  • Ein Liter Vollmilch deckt fast den ganzen Tagesbedarf an essenziellen Aminosäuren.

Kritik an Kuhmilch

Wie kommt es dann, dass komplementärmedizinische Therapeuten trotzdem kategorisch vor dem Genuss des weißen Saftes warnen? Kuhmilch wirke verschleimend und kältebildend, sie sei schwer verdaulich, nicht artgerecht und fördere die Entstehung etlicher Krankheiten, vorab von Allergien, Erkältungskrankheiten, Herz-Kreislauf-Störungen, Rheuma, ja sogar von Krebs – so lauten die häufigsten Vorwürfe.

Als Dreh- und Angelpunkt der Kritik dient in der Regel der Vergleich von Kuhmilch und Muttermilch. Letztere gilt als ernährungsphysiologische «Muster-Milch», von der Natur für den menschlichen Säugling massgeschneidert. Tatsächlich enthält Muttermilch nicht einmal halb so viel Eiweiß (1,5 statt 3,3 Prozent) und nur ein Sechstel so viel Phosphorsäuren wie Kuhmilch (15 mg/dl statt 92 mg/dl). Kuhmilch-Gegner leiten daraus ab, dass der hohe Proteingehalt der Kuhmilch zur Eiweißmast führe und auf Dauer eine Proteinspeicherkrankheit verursachen könne – samt Beschädigung von Blutgefäßen, Nieren und weiteren Organen.

Dass eine zu eiweißlastige Kost tatsächlich zur «Verschlackung» der Blutgefäße mit Proteinen führen kann, ist seit den Untersuchungen der Professoren Dr. Lothar Wendt und Dr. Thomas Wendt belegt. Dennoch lässt die Ernährungsberaterin Nathalie Metzger das Eiweiß-Argument nicht gelten: «Wer nach der Lebensmittelpyramide der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung isst, kann problemlos drei Milchportionen pro Tag zu sich nehmen. Um eine Überversorgung mit Eiweiß zu erzeugen, müsste man mehr als das konsumieren und außerdem zusätzliches Eiweiß aus anderen Quellen.»

Eine Ansicht, welche die Ernährungswissenschaftlerin Petra Kühne aus Frankfurt teilt: «Die Eiweißmast ist tatsächlich ein Problem der modernen Industriegesellschaft. Schuld daran ist aber in erster Linie der Fleischkonsum, nicht der Milchkonsum.»

Anders sieht es bei den Säuglingen aus: «Der hohe Eiweißgehalt der Kuhmilch kann dazu führen, dass sie zu viele Proteine aufnehmen. Das verursacht eventuell Stoffwechsel- oder Nierenstörungen. Auch einen Eisenmangel kann Kuhmilch bei Säuglingen hervorrufen», erklärt Nathalie Metzger. Grund: Kuhmilch enthält kaum Eisen und behindert die Aufnahme von Eisen aus anderen Lebensmitteln.

Milch, ein schwerer Brocken?

Auch der hohe Phosphorgehalt der Kuhmilch gibt Anlass zu Kritik. Er soll die Milch schwer verdaulich machen. «Die Phosphorsäure reisst im Magen die aus der Milch frei gewordenen Kalkstoffe an sich und bildet unter Hinzuziehung der Eiweißstoffe phosphorsaures Kalkeiweiß. Dieses liegt wie ein Stein im Magen und kann vom Magensaft nicht angegriffen werden», schreibt der schwedische Ernährungsforscher Dr. Ragnar Berg (1873 - 1956), dessen Theorie bis heute im Umlauf ist.

Eine happige Aussage. Was ist davon zu halten?

«Nichts. Sie ist biochemischer Unsinn», sagt der Ernährungswissenschaftler Prof. Dr. Martin Loessner, Leiter des Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften an der ETH Zürich: «Bi- und Diphosphate bilden zwar durchaus schwer lösliche Molekülketten, doch diese Phosphate kommen in der Kuhmilch nicht vor. Kuhmilch enthält Natrium- und Kalium-Monophosphate, die mit Kalzium nicht reagieren.»

Weitere Behauptungen über Kuhmilch verweist Martin Loessner ebenfalls ins Reich der Phantasie, zum Beispiel, dass die Magensäure aus dem Milcheiweiß Kasein schwer lösliche Komplexe bilde oder dass Erwachsenen im Gegensatz zu Säuglingen die Enzyme fehlten, um Kuhmilch richtig zu verdauen. Dazu der Ernährungsforscher: «Es stimmt, dass die Bauchspeicheldrüse der Säuglinge etwas mehr eiweißspaltendes Chymotrypsin bildet. Doch im erwachsenen Körper werden zahlreiche andere Enzyme produziert, die pflanzliche und tierische Eiweiße effizient zerlegen, zum Beispiel Pepsin im Magen und Trypsin im Dünndarm.»

Viel Erfahrungswissen

Naturwissenschaftlich lassen sich also die genannten Anti-Kuhmilch-Argumente entkräften. Doch immerhin haben Naturheilkunde und Komplementärmedizin während Jahrzehnten Erfahrungswerte gesammelt: «Ich sehe bei meinen Patienten häufig, dass die Neigung zu verstopfter Nase, Stirnhöhlenentzündungen und Bronchitiden verschwindet, wenn sie auf Kuhmilch verzichten», berichtet zum Beispiel der St. Galler Arzt Dr. med. Peter Marko.

Diese Beobachtung teilt der in Kilchberg (ZH) tätige Dr. med. John van Limburg: «Für mich ist klar, dass Kuhmilch nur dann von Nutzen ist, wenn jemand ausgetrocknet und ausgemergelt ist. Milch ist nun mal zum ‹Mästen› da. Manche Frauen, die zu viel Milch trinken, entwickeln sogar einen weißlichen Vaginalausfluss.»

Und Dr. med. Victor von Toenges von der Paracelsus-Klinik in Lustmühle doppelt nach: «Viele Kinder bekommen zu früh Kuhmilch in den Schoppen. Das führt später oft zu Antikörperbildungen gegen Milch. Bei Neurodermitis ist fast immer eine Kuhmilch-Unverträglichkeit im Spiel.»

Würzen und wärmen

Es dürfte kein Zufall sein, dass der Kuhmilch in der ayurvedischen und Traditionellen Chinesischen Medizin TCM praktisch die gleichen Wirkungen nachgesagt werden: «Die TCM geht davon aus, dass Kuhmilch im menschlichen Körper kälteerzeugend und schleimbildend wirkt», sagt die Zürcher TCM-Therapeutin Pascale Anja Barmet.

«Der regelmäßige Genuss von Kuhmilch kann deshalb bestimmte Krankheiten fördern, insbesondere die Neigung zu Erkältungen wie Schnupfen, Ohrenentzündungen, Halsweh oder Bronchitis, aber auch Übergewicht, bestimmte Allergien und Rheuma.» Um Kuhmilch bekömmlicher zu machen, empfiehlt Pascale Anja Barmet, die Milch zu erwärmen und sie mit Ingwerwasser zu verdünnen. *

Ähnlich gehen ayurvedische Ärzte vor: «Kuhmilch ist aus ayurvedischer Sicht nur erhitzt oder körperwarm vom Euter verträglich», sagt der international anerkannte Ayurveda-Arzt Hans-Heinrich Rhyner. «Den kühlenden und schleimbildenden Wirkungen der Kuhmilch kann man jedoch entgegenwirken, indem man die Milch erhitzt und ihr wärmende, verdauungsfördernde Gewürze beigibt.»

Dazu eignen sich beispielsweise Kardamom, Ingwer, Kurkuma und Bio-Bourbonvanille. Auch das hälftige Verdünnen der Milch mit Wasser erhöhe die Bekömmlichkeit, erklärt der in Herisau und Wien tätige Therapeut.

Natürlich oder industrialisiert?

Viele Gesundheits-Spezialistinnen sehen die Crux bei der Kuhmilch an einem ganz anderen Ort: «Milch ist ein gutes Naturprodukt und ein wertvolles Lebensmittel. Doch sie wird zusehends verdorben durch die industrielle Verarbeitung – von der vergleichsweise schonenden Pasteurisierung bis zur Ultrahocherhitzung», sagt die Ernährungswissenschaftlerin Petra Kühne.

Die offiziellen Gesundheitsstellen sehen kein Problem darin, dass diese industriellen Verfahren die natürliche Struktur der Milchinhaltsstoffe verändern. Doch die biochemische Realität sieht anders aus. Nehmen wir das Beispiel der Homogenisierung: Sie reduziert den Durchmesser der Milch-Fettkügelchen von sechs bis drei Tausendstel Millimeter auf ein Tausendstel. Das führt zu einer rascheren Aufnahme des Milchfetts in die Blutbahn, wie der deutsche Ernährungsforscher Prof. Dr. Claus Leitzmann erklärt: «Eine schnelle, maximale Aufnahme von Nährstoffen wird oft als Vorteil dargestellt, in Wirklichkeit ist die langsame, natürliche Resorptionsrate optimal. Das kennen wir auch vom Zucker: Je langsamer, desto besser.»

Es erstaunt also nicht, dass naturbelassene Biomilch in naturheilkundlichen Fachkreisen als bekömmlichste und wertvollste Kuhmilchvariante gilt. Tatsächlich gibt es sogar erste handfeste Beweise für die Überlegenheit von Biomilch. So belegt eine Studie des Forschungsinstituts für biologischen Landbau in Frick AG, dass ökologische Fütterung und Weidehaltung der Kühe die Inhaltsstoffe der Milch positiv beeinflussen, unter anderem den Gehalt an gesundheitsfördernden Linol- und Omega-3-Fettsäuren.

Die Anpassung macht’s

Fassen wir zusammen: Wer naturwissenschaftlich argumentiert, darf Kuhmilch nicht als ungesund bezeichnen. Im Gegenteil: Kuhmilch enthält nachweislich viele wertvolle Inhaltsstoffe. Trotzdem zeigt die Erfahrung, dass der Genuss von Kuhmilch mitunter Beschwerden verursacht, auch wenn sich diese nur bei der Kuhmilch-Allergie und bei der Milchzucker-Unverträglichkeit bzw. Laktose-Intoleranz naturwissenschaftlich belegen lässt. Zur Erinnerung: Bei Menschen mit Laktose-Intoleranz gelangt der Milchzucker mangels Laktase unverdaut in den Dickdarm, wo er zu gären beginnt und Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall verursacht.

Interessanterweise stellt ausgerechnet die Laktose-Intoleranz die Behauptung in Frage, dass Kuhmilch grundsätzlich schädlich sei. Dazu die Ernährungswissenschaftlerin Petra Kühne: «Ob Kuhmilch gut tut oder nicht, ist eine Frage der menschlichen Anpassungsfähigkeit. Diese ist individuell, genetisch und kulturell verankert. Denken wir zum Beispiel an die Chinesen, die seit Jahrhunderten kaum Kuhmilch trinken. Als Folge davon können über 80 Prozent der Chinesen Milchzucker nicht verstoffwechseln. In den umliegenden Bergländern dagegen, zum Beispiel in Tibet, haben die wenigsten Menschen eine Laktose-Intoleranz, weil sie seit Jahrhunderten tagtäglich Kuhmilchprodukte konsumieren.»

Autorin: Petra Gutmann Horat

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